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"ENGLAND IST ZU BLASIERT"

Stereoplay May 1987

Eine der trendsetzenden Bands des Computerpop setzt sich heute mit handgemachter, entspannter Musik zwischen alle Stühle - und fühlt sich wohl dabei.

stereoplay: Warum heißt das neue Album "Pleasure One"?

lan: Es war ein echtes Vergnügen. Wir haben von zehn Uhr morgens bis fünf hart gerackert, denn wir mußten uns neben der Musik auch noch um die Technik kümmern. Obendrein gab es im Studio kein Air-conditioning, so mußten wir in der brütenden Hitze in Shorts herumlaufen.

stereoplay: Was ist denn von der Fortsetzung, „Pleasure Two", zu erwarten?

Glenn: Eine Platte, die mehr ruhige, nachdenkliche Songs enthält. Das macht zusammen mit den Tanzrhythmen von „One" erst das richtige Vergnügen aus.

lan: ... und es gibt einen schönen Kontrast ab zu der snobistischen Geheimniskrämerei unserer früheren Musik.

stereoplay: Setzt ihr euch mit der „Pleasure"-Platte nicht musikalisch zwischen alle Stühle?

Glenn: Ja doch. Gerade für die Presse werden wir langweilig, weil wir in keine Schublade mehr passen. Deswegen sagen sie uns in England nach, wir wüßten nicht, was wir wollten. Das wissen wir aber genau, und wenn sie das nicht kapieren - wir sagen es ihnen nicht.

Ian: Bei „Penthouse And Pavement" war das anders, da hatten wir ein festumrissenes Image. Aber heute? Wir sind nicht Duran Duran oder die Simple Minds, wir sind keine große Hitband und keine große Liveband, wir spielen keinen Funk ...

Glenn: In Amerika läuft das nochmal anders. Die Presse pickt sich das Simpelste heraus, was sie am Image einer Band finden kann, und schreibt darüber - und selbst das verdreht sie meist noch.

lan: Die Engländer tun das exakte Gegenteil. Sie schreiben undurchsichtige Traktate, die eigentlich nur zur eigenen Bauchpinselei bestimmt sind, und bemerken oft gar nicht, daß sie in ihrer Verantwortungslosigkeit junge Bands ruinieren.

stereoplay: Wollt ihr in dem Klima denn noch arbeiten?

Ian: Offen gestanden, von London haben wir die Nase voll. Ich persönlich würde gern in Italien leben. Die Italiener sind künstlerischer und chaotischer und haben sich einen Sinn für das Absurde bewahrt. England ist zu blasiert geworden.

stereoplay: Dann ist England nicht mehr die führende Pop-Nation?

Glenn: Doch, irgendwie schon - ich verstehe aber nicht warum.

Ian: Die Subkulturen in England sind nach wie vor sehr stark. Du kannst jederzeit die Musik hören, die du hören willst. Du brauchst nicht das Angebot von Radio und Fernsehen zu ertragen.

stereoplay: Ihr zeigt jüngst Ambitionen zu Filmmusik.

Ian: Wir engagieren uns da nicht sonderlich. Diese ganze Soundtrack-Szene scheint ein geschlossener Kreis zu sein... Da fällt mir eine deutsche Band ein, die viel mit Filmmusik verdient - Tangerine Dream.

stereoplay: Habt ihr deren Musik früher gehört?

Ian: Nein, ich kenne sie, habe sie aber nie so recht gemocht. Die ersten 30 Sekunden der Stücke sind gut, dann wird es langweilig. Da sind mir Kraftwerk erheblich lieber.

stereoplay: Seht ihr in Human League noch Rivalen?

Ian: Ich nehme an, Phil kann diese Frage nicht ausstehen. Wir stehen heute darüber. Auch junge Heaven-17-Fans dürften von dieser Verbindung nichts mehr wissen, es sei denn, man bindet es ihnen extra auf die Nase.

stereoplay: Aber beide Bands bewegen sich doch im Augenblick erstaunlich ähnlich auf Black Music zu.

Ian: Oberflächlich ja, aber der Einfluß ist ein völlig anderer. Wir haben unser Album selbst produziert, mit unseren Ideen und den Musikern, zu denen wir eine persönliche Beziehung aufgebaut haben. Phil dagegen hat sich ganz den Soundvorstellungen von Jimmy Jam und Terry Lewis unterworfen. Die mag ich zwar, aber: Man könnte Phils Stimme wegnehmen und sie ebensogut durch die von Janet Jackson ersetzen. Interview: Matthias Inhoffen,

Andrea Jonischkies


Die Platte:

Heaven 17 Pleasure One

Virgin 207 997-630 CD: 257 997-225

Interpretation: gut

Klangqualität: gut


STECKBRIEF

Heaven 17 sind ein Phänomen, das mit musikalischen Kriterien allein nicht zu greifen ist: nüchterne Rechner und enthusiastische Pop-Tüftler, tanzversessene Partyhengste und sozialistische Hitzköpfe, Avantgardisten und Mediennarren, Soulfans, Computerfreaks und belesene Intellektuelle.

Wie das alles unter einen Hut zu bringen ist, weiß die Popwelt spätestens, seit sich Martyn Ware und Ian Craig Marsh 1981 von der Sheffield-Band Human League abnabelten, um ihre frechen Ideen selbständig weiterzuverfolgen. So holten sie als Heaven 17 - Sänger Glenn Gregory stieß als Dritter im Bunde hinzu - nicht bloß die Computermusik aus Avantgardehöhen auf den Tanzboden herunter, sondern brachten ihrem ultramodernen Technopop auch noch mit engagierten Texten politisch das Laufen bei: Auf der ersten Platte „Penthouse And Pavement", von stereoplay seinerzeit zur „Besonderen Platte" gekürt, protestierten sie zu funkigen Rhythmen gegen den Faschismus („We Don't Need That Fascist Groove Thang").

Wohl hatte die Rumpf-Besetzung von Human League um den eitlen Phil Oakey anfangs die kommerzielleren Trümpfe im Ärmel, doch schon 1983 holten Heaven 17 auf. Ihr Erfolgsalbum „The Luxury Gap" verband überzeugend Stilbewußtsein mit Soulfeeling.

Nach einer Bauchlandung mit der halbherzigen dritten Produktion „How Men Are" sind Heaven 17 heute wieder voll da. Ihr jüngstes Werk, „Pleasure One", nimmt die allgemeine Unlust am Computer-Brimborium ernst und präsentiert sich angenehm entschlackt, mit viel Gitarren und echtem Schlagzeug eingespielt, tanzbar im lockeren FunkBeat und entspannt melodisch. Das Auftreten von Glenn Gregory und Ian Craig Marsh beim stereoplay-Interview unterstreicht den atmosphärischen Eindruck des Albums: Die beiden geben sich freundlich und zugänglich wie Amateure, verwahren sich gegen übertriebenes Styling - und haben doch immer wieder einen spitzen Kommentar zum gegenwärtigen Pop-Betrieb auf Lager.

Matthias Inhoffen